Der ideale Unterrichtsverlauf
Die ersten Unterrichtsversuche im Praktikum oder im Referendariat sind wahrscheinlich etwas straffer vorstrukturiert und lassen dem angehenden Lehrer wenig Entscheidungsspielraum. Früher oder später kommt aber die Stunde der Wahrheit, zum Beispiel so:
Der Lehrtätigkeitsbeginner bekommt von seinem Ausbilder den ersten umfangreicheren Auftrag, „Nächste Woche halten Sie eine Stunde in der 8b, Einführung Landeskunde USA. Hier ist ein schöner Text, das Video hier passt gut, das erschließen Sie mit ein paar Aufgaben, ah, und die Landkarte da, die können Sie auch verwenden. Hausaufgabe war ein USA-Foto mitzubringen und kurz erklären zu können, was drauf zu sehen ist. Das haben die Schüler sicher alle gemacht, irgendwelche Bildchen aus der Fernsehzeitung wird wohl jeder gefunden haben.“
Wie soll aus diesen paar Bruchstücken jetzt eine Unterrichtsstunde werden, die wenigstens einige der wesentlichen Qualitätskriterien für guten Unterricht erfüllt?
Wenn es doch nur ein brauchbares Gerüst gäbe!
Der fiktive Junglehrer aus dem Beispiel orientiert sich in seiner Vorbereitung, wenn er kein anderen Modelle im Studium kennengelernt hat, höchstwahrscheinlich an einem von ihm selbst erlebten Unterrichtsmodell, das letztlich die Schnittmenge aus allen Unterrichtssstunden darstellen wird, die er selbst als Schüler erlebt hat. Diese -mittlerweile zehn Jahre alten – Beobachtungen des Junglehrers sind notwendigerweise unreflektiert, stammen aus der Schülerperspektive und sind in der Regel nicht geeignet, die Intentionen des damals unterrichtenden Lehrers nachvollziehen zu können.
Somit kommt es zu einem weitgehend unreflektierten, klischeehaften Modell von Fremdsprachenunterricht:
(1) Begrüßung
Daran erinnert sich jeder Schüler – beim einen Lehrer musste man aufstehen, die andere Lehrerin ließ sich gern ‚Miss‘ nennen. Die Begrüßung muss also wichtig sein.
(2) Hausaufgabenkontrolle
Die nächste gesicherte Erinnerung: Der Schreckmoment, wenn die falsche Hausaufgabe erledigt wurde, oder wenn der Banknachbar eine andere Hausaufgabe hatte. Die Korrektur erfolgte irgendwie durch den Lehrer am Overheadprojektor mit einer Lösungsfolie.
(3) Ausfragen
Hier lauert bei manchem Lehrenden das nächste Kindheitstrauma: Vorkommen an die Tafel, Vokabelabfrage. Gern auch mit schriftlicher Fixierung der Vokabeln an die Tafel, dazu noch ‚Who can help him?‘, wenn der arme Tropf vorn nicht auf die korrekte Schreibung von ‚government‘ kommt.
(4) Motivation
Der Lehrer erzählt irgendwas Erbauliches zum Thema, vielleicht hat er sogar ein Bild dabei, oder einen Cartoon. Motivation ist wichtig, das wissen Junglehrer meistens aus dem Studium, und mit einem gewissen Verständnis vom behaviouristischen Ansatz wird auch klar, dass Schüler viel besser lernen, wenn sie motiviert sind. Ein paar Anekdoten und Beispiele – das eine Mal, als der Lehrer einen Ausschnitt aus dem Terminator-Trailer gezeigt hat, oder die eine Stunde mit dem Asterix-Comic auf Englisch – hat sich der Referendar gemerkt, aber die passen irgendwie nicht so gut.
(5) Vokabelarbeit
Damit der Text nicht gar so spannend ist, werden jetzt alle Vokabeln erklärt – bis hin zur Fixierung im Vokabelheft. Nur eindeutig mit deutscher Übersetzung, damit bloss alles endeutig ist. Der Junglehrer hat selbst als Schüler an dieser Stelle glänzen können – „Das heißt Regierung!“, deswegen erinnert er sich gut daran. (Außer ihm haben nicht viele Kinder etwas gelernt in diesen Phasen.)
(5) Demonstration
Jetzt hat der Lehrer immer irgendwas gezeigt – gern den Lehrwerkstext von CD zum Mitlesen im Buch. Unklare Vokabeln gab es kaum, die wurden ja vorentlastet. Direkt danach wurde der Text noch ein paar Mal laut gelesen. Besonders spannend war’s, wenn man die Aussprache von fremden Wörtern erraten durfte, und sich so wieder und wieder Mitschüler zum Horst machten. Angstlernen als Unterrichtsprinzip? Nein, das nicht, wenigstens nicht beim Junglehrer, der hatte häufig Erfolg beim Raten, oder war resilient.
(6) Hefteintrag
Fragen zum Text? Zusammenfassungen? Egal was, in jeder Stunde wird etwas ins Heft geschrieben.
(7) Übungen
Jetzt wird noch etwas geübt, gern im Zusammenhang mit der Lehrwerksfamilie, die ja zu echten Freunden des Sprachenlerners werden. Jeder weiß, wie der Hund von den echten Engländern aus Nottingham heißt.
(8) Hausaufgabenstellung
Im Zweifel irgendwas, was zu Schritt 2 passt, oder einfach die nächste Übung im Workbook nach Schritt 7. Aufschreiben an die Tafel und ins Hausaufgabenheft – alle machen als Hausaufgabe dasselbe, aber das war ja auch im ganzen Unterricht so.
(9) Verabschiedung
Jetzt wird freundlich Good-Bye gesagt, der Tafeldienst darf nochmal ran (die Tafel ist wegen der vielen Übungen eh voll), wenn sich herausfinden lässt, wer heute überhaupt Tafeldienst ist.
Was beim klischeehaften Unterrichtsmodell auf der Strecke bleibt
(1) Überraschungen. Wenn jede Unterrichtsstunde gleich verläuft, stellt sich bei Schülern wie Lehrern Routine ein.
Der Vorteil von Routine ist klar: Man muss nicht mitdenken. Also – Kids sollen ja mitdenken – ist Routine beim Erwerben von Neuem nicht förderlich. Hilfreich sind Routinen und Rituale da, wo sie den Unterrichtsalltag strukturieren, wo sie das Zusammensein effizienter gestalten. Am Stundenende wird die Tafel gewischt, bevor der Lehrer da ist, liegen schonmal die Materialien für das Fach auf den Schreibtischen, die Begrüßung ist immer gleich und wird nicht täglich neu ausgehandelt; das sind sinnvolle Konventionen.
(2) Differenzierung. Alle machen immer das Gleiche. Alle hören gleichzeitig denselben Text, bekommen die gleichen Informationen zur selben Zeit. Nein, Kinder sind nicht alle gleich, ihr Kenntnisstand und ihr Aufnahmevermögen sind unterschiedlich. Egal, an welchem Schüler sich Anspruchsniveau und Unterrichtstempo orientieren – die anderen Schüler werden nicht optimal beschult, wenn der Lehrende nicht auch an sie denkt und entsprechend Aktivitäten oder Hilfen vorbereitet.
(3) Selbsttätigkeit und Handlungsorientierung. Aktiv ist beim oben vorgestellten Unterrichtsverlauf in erster Linie der Lehrer vor der Tafel.
(4) Pädadgogik. Der Lehrer als wichtiges Vorbild, als Gesprächspartner für Schüler, der auf spontane Schüleräußerungen eingeht – das ist im oben skizzierten Unterrichtsverlauf nicht vorgesehen.
(5) Schwerpunktsetzung nach Interesse der Klasse und der Lehrkraft. Wenn der Lehrer die Wahl der Unterrichtsinhalte, der Methoden und der Übungstypen einem Lehrwerksautoren überlässt, dann entscheidet er sich gleichzeitig dagegen, etwas zu tun, das der Klasse speziell weiterhelfen könnte.
(6) Sprachenlernen. Geplantes Sprachenlernen wird dem zufälligen Lernen ohne gezielte Schwerpunktsetzung überlegen sein – letztlich liegt hier der Unterschied zwischen dem Erwerb der Muttersprache und dem Lernen einer Fremdsprache.
(7) Kompetenzorientierung.
(8) Die Schüler. Ja, die Schüler kommen zu kurz. In Summe wird klar: So, wie oben beschrieben, wird Unterrichtsplanung nicht glücken.